Für die Medizinstudierenden beginnt die Auseinandersetzung mit dem toten Menschen in der Anatomie bereits vor Beginn des Studiums, nämlich in der von den Kommilitoninnen und Kommilitonen organisierten Vorwoche. Im Rahmen dieser Einführung in das Studium informieren wir über die Körperspende und den Umgang mit dem toten Körper, beantworten Fragen und zeigen im Leichenbereich und im Präpariersaal fixierte und präparierte Leichname. Das Wissen und die Anschauung nehmen die Angst vor dem noch Unbekannten, erleichtern weitere Fragen und Gespräche über den Tod, zwingen aber auch zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Sechs Wochen später werden dieselben Studierenden mit den Präparationen an „ihrem“ Leichnam beginnen.

Die unterschiedlichsten Menschen aus dem südlichen Schleswig-Holstein vermachen unserem Institut ihren toten Körper, damit wir den angehenden Ärztinnen und Ärzten bei der gemeinsamen Präparation die Teile des Körpers und ihre räumliche Anordnung vermitteln können. Vor allem in den Körperhöhlen von Rumpf und Kopf erschließen sich die topografischen Verhältnisse und ihre Variationsmöglichkeiten nur am Original, dem menschlichen Körper. Nicht allein Studentinnen und Studenten der Medizin, sondern auch Studierende anderer Fachrichtungen (z. B. Physiotherapie, Ergotherapie, Hebammenwissenschaften) lernen intensiv an den präparierten Leichen, und auch fertige Ärztinnen und Ärzte besuchen zur Weiterbildung Operationskurse, die ohne Körperspender undenkbar sind. Nach Abschluss der Untersuchungen werden die Körperspender eingeäschert und auf dem Grabfeld der Universität auf dem Friedhof der St. Willehad-Kirche in Groß Grönau beigesetzt. Dort steht ein Gedenkstein aus mehreren Elementen, der in seinem Mittelteil die Inschrift trägt:

SIE HALFEN IM TOD DEN LEBENDEN – WIR DANKEN UND GEDENKEN

Die Stelen zu beiden Seiten symbolisieren Individuen, die aus unterschiedlichen Richtungen einer gemeinsamen Idee zuwachsen: Menschen aus vielen Orten und aus allen sozialen Schichten, die aus unterschiedlichsten Gründen noch zu Lebzeiten festlegten, dass ihr Körper nach dem Tod für wissenschaftliche Untersuchungen und zur Ausbildung angehender Ärzte zur Verfügung steht. Die nach vorn gerichteten Stelen wirken wie ausgebreitete Arme, die signalisieren, dass jeder Mensch an diesem Ort willkommen ist, nicht nur als Körperspender, sondern auch als Angehöriger, Freund und Gast. Der Hauptteil des Gedenksteins ist dem Querschnitt durch einen menschlichen Keimling nachempfunden. Die runde Öffnung in der Mitte entspricht der Anlage des Nervensystems, aus dem sich das Gehirn entwickelt. Sie symbolisiert die Keimzelle für die gemeinsame Idee und den freien Willen für eine ungewöhnliche Entscheidung. Gemeinsam mit der Trennung zwischen den beiden symmetrischen Hälften bildet diese Öffnung die Kontur eines stilisierten Strahlenkreuzes (Abbildung 1).

Auf diesem Grabfeld enden in jedem Jahr drei Gottesdienste zum Gedenken an die Körperspenderinnen und Körperspender, die in den vergangenen zwölf Monaten hier oder – auf Wunsch – auch an einem anderen Ort beigesetzt wurden. Der Gedenkgottesdienst, zu dem die Angehörigen der Körperspender eingeladen werden, wird in der St. Willehad-Kirche von der evangelischen Krankenhausseelsorgerin oder dem katholischen Krankenhausseelsorger abgehalten. Die Studenteninnen und Studenten verlesen die Namen, entzünden bei der Nennung des Namens jeweils eine Kerze und legen später für jeden Körperspender und jede Körperspenderin eine Rose auf das Grabfeld. Spätestens bei dieser Feier spüren die Angehörigen, was für ein kostbares Geschenk ihr Verstorbener uns bereitet hat.

Bereits in der Vorwoche weisen wir die Erstsemester auf die Gedenkfeier hin, die am Ende des vorklinischen Studiums die Möglichkeit bietet, den Körperspendern zu danken. Da Worte, auch Dankesworte, missverständlich sein können, fordern wir die Studierenden auf, den Gedenkgottesdienst musikalisch auszugestalten. Vom begleiteten Solo bis zum großen Chor oder bis zum Kammerorchester spielen die Studierenden in jedem Jahr aufs Neue unterschiedlichste Musikstücke, die von den Angehörigen der Körperspender dankbar aufgenommen werden, wie viele positive Reaktionen zeigen. Die Möglichkeit, während der Musik eigenen Gedanken nachzugehen, verhilft dazu, aus der Gedenkfeier für viele Menschen innerlich eine ganz individuelle Trauerfeier zu formen.

Sowohl die Einführung in der Vorwoche als auch die Gedenkfeier sind Veranstaltungen für Studentinnen und Studenten, die in keinem Curriculum aufgeführt und dennoch unendlich wichtig sind. Sie umschließen, einer Klammer vergleichbar, die systematische anatomische Ausbildung, in der das Lernen am Präparat im Vordergrund steht. In der Klammer dagegen wird Menschliches deutlich. Da ist zunächst die Person, die den Entschluss zur Körperspende schriftlich fixiert. Nach dem Tod verblasst ihre Individualität durch Fixierung und Präparation immer mehr. Erst in der Gedenkfeier gewinnt das inzwischen eingeäscherte und als Urne beigesetzte Präparat mit der Nennung des Namens wieder seine ursprüngliche menschliche Identität. Diese Rückverwandlung hilft, die Handlungen im Präpariersaal mit gutem Gewissen als großen persönlichen Gewinn zu empfinden, und sie hilft, während der Gedenkfeier in Anwesenheit der Angehörigen tief empfundenen Dank auszudrücken.

Kontakt:

Dr. med. Imke Weyers

Photo of Imke  Weyers

Ärztin / Fachärztin für Pathologie
Ratzeburger Allee 160
23562 Lübeck
Gebäude 63, Raum 5

Email: imke.weyers(at)uni-luebeck.de
Phone: 04513101-7120